Ich heiße
Manon Straché und erblickte am 27. März 1960, an einem Sonntag, zwar nicht
gerade das Licht der Welt, aber das der Landesfrauenklinik in Magdeburg -
nun ja. Meine Mutter, Lisette Straché, war Ballett-Tänzerin am hiesigen
Theater und alleinstehend. Also wuchs ich zunächst bei meiner Oma in Naunhof
bei Leipzig auf. Mit vier Jahren zog ich dann wieder zu meiner Mutter, die
inzwischen den Orchestermusiker Harro Stockmann geheiratet hatte.
Geschwister habe ich keine, aber wir hatten einen Hund. Ich ging in
Magdeburg in den Kindergarten und hatte alle Hände voll zu tun, mir den
sächsischen Dialekt abzugewöhnen, ohne mir den Magdeburger Dialekt
anzugewöhnen. Da ich sehr klein war, durfte ich mit sechs Jahren noch nicht
zur Schule gehen und wurde vom Kinderarzt für ein Jahr zurückgestellt. Ich
empfand das damals als persönliche Schmach und Versagen meinerseits.
Deshalb habe ich mich ein Jahr lang, jeden Tag auf unserem Hof an die
Teppichstange gehängt. Nicht wesentlich größer, kam ich dann endlich mit
sieben Jahren in die "Artur-Becker" (ein kommunistischer Widerstandskämpfer
im spanischen Bürgerkrieg ) - Oberschule. Ich hatte keine Vorderzähne
(Milchzähne) mehr, durfte deshalb beim Fotografen nur mit geschlossenem Mund
lachen, bei meiner Zuckertüte brach nach zwei Minuten die Spitze ab. Und zu
Hause mußte ich zu meinem Entsetzen auch noch feststellen, daß der Inhalt
dieser Tüte weniger aus süßen, dafür um so mehr aus praktischen Dingen wie
Schuhputzzeug, Fingernagelnecessaire und Nähzeug bestand. Naja, der Ernst
des Lebens hatte eben begonnen.
Wie ernst, merkte ich auch an dem Transparent in unserer Schulaula (wir aßen
dort immer zu Mittag), auf dem ein Zitat unseres Schulnamensgebers stand:
"Lieber im Stehen sterben, als auf Knien leben".
Disziplinarische Verfehlungen machte ich durch recht gute schulische
Leistungen wett oder ich guckte eben auf das Transparent in der Aula. Ich
ging zum Ballett, hatte Klavierunterricht, sang im Schulchor und machte
Leistungssport - Schwimmen. Ich war ein richtiges "Full-Time-Kind". So ein
Kind erholte sich natürlich an der See. Wir hatten ein Riesenglück einen
Ferienplatz in einem Ostseedorf ergattert zu haben, was damals in der DDR
sehr schwierig war.
Jedes Jahr fuhren wir dort hin, bis ich eines Tages die Bäuerin dabei
beobachtete, wie sie Katzenbabies im Ententeich ertränkte. Ich konnte es
nicht verhindern und trat sie deshalb vors Schienbein und beschimpfte sie
auch noch als Mörderin. Die Bauersfrau nahm es gelassen; unseren
Urlaubsplatz für das nächste Jahr waren wir trotzdem los. Als
Thälmann-Pionier durfte ich später einmal meine Ferien im Pionierlager
verbringen. Das war eine Auszeichnung! Dort begegnete ich Erich Honecker,
der mir die Hand schüttelte und Jasir Arafat der mir die Hand küßte.
Ab der neunten Klasse besuchte ich die erweiterte Oberschule "Otto von
Guericke", um in der zwölften Klasse mein Abitur zu machen. Otto von
Guericke war im Mittelalter Bürgermeister von Magdeburg und entdeckte
mittels eines Halbkugelexperiments das Vakuum. Diese Entdeckung hatte ich in
unserem Land auch ohne Halbkugeln bereits gemacht. Der Wunsch auf der Bühne
zu stehen, der seit frühester Kindheit in mir loderte, seinem Leben Farbe
und Glanz zu verleihen und immer spielen zu dürfen, wuchs deshalb bei mir
ins Unermeßliche. Noch während der Schulzeit nahm ich an allen
Schauspielschulen der DDR an Aufnahmeprüfungen teil. Vergebens - Ich fiel
immer durch. Insgesamt sieben mal. 1979 legte zwar ein gutes Abi hin, hatte
aber keinen Studienplatz. Also bewarb ich mich beim Reisebüro, weil ich
dachte in der DDR hat man dort ja nicht allzu viel zu tun. So einfach war es
dann doch nicht, am Ende des Tages stimmten meine Abrechnungen nämlich fast
nie, aber am Schalter war ich immer die Lustigste. Um dem Lande weiteren
ökonomischen Schaden zu ersparen, versuchte ich es noch einmal an der
Schauspielschule. Nach meinem nunmehr achten Versuch wurde ich endlich an
der Theaterhochschule in Leipzig aufgenommen. Ich hatte das Gefühl, mein
Leben beginnt! Wir genossen vier Jahre lang eine harte, aber sehr gute
Ausbildung. Während meines Studiums war ich zum ersten mal verheiratet, nach
meinem Studium zum ersten mal geschieden. Zu dieser Zeit spielte ich schon
an verschiedenen Theatern und ging 1984 in Leipzig zum politisch-satirischen
Kabarett.
Die nächsten fünf Jahre stellten eine sehr intensive Zeit dar, in der das
Land aus seiner Lethargie und Erstarrung erwachte. Ich lernte Peer Jäger
kennen, der sieben Jahre später mein Mann wurde. Wir waren zunächst "nur"
gute Freunde und Kollegen, erst viel später ein Paar. Nach vielen
nächtlichen Diskussionen an meinem Küchentisch, beschlossen wir gemeinsam,
die Rente nicht in diesem Land erleben zu wollen. Peer kam von
einem Gastspiel im September 1989 nicht mehr zurück. Meine "bleierne Zeit"
begann. Das Leben, der Alltag, waren bestimmt von Angst und
Hoffnungslosigkeit, aber auch von einer unsagbaren Wut auf das System und
dem unbändigen Willen nach Demokratie und Freiheit. Das trieb uns Leipziger
trotz staatlicher Bedrohung jeden Montag auf die Straße. Am 9.11.1989 fiel
völlig unerwartet, die Mauer. Eine Woche später verließ ich mit einem Koffer
die DDR. Leider konnte ich mich von niemanden mehr verabschieden, denn dann
hätte ich zugegeben, von den Fluchtabsichten von Peer gewußt zu haben und
das war zum damaligen Zeitpunkt noch strafbar. In Heidelberg, unserer ersten
Station, begann nun unser neues und schönes Leben.
Das Zitat aus unserer Schulaula habe ich nie vergessen, doch bei mir würde es heißen:
"Wer im Stehen lebt, muß nicht auf Knien sterben."
Ihre